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Alles im Kasten

Auf der Werkbank schon deutlich zu sehen: das nächste Briefkastensystem mit Schlitzen für Zeitungen und Post sowie Klingelschilder.

Ein Zufall führte Manfred Schulte 1998 nach Großröhrsdorf. Dort baut der Sauerländer eine Firma auf für Produkte, die jeder kennt.

Briefkastenfirma. Natürlich hört Manfred Schulte immer wieder mal dieses Wort, bei dem Prominente und Finanzoligarchen zittern, während Steuerfahnder Überstunden schieben. Für den 63-Jährigen ist es alles andere als ein Schimpfwort. Schließlich verdient er mit dem Bau von Briefkästen sein Geld. Und mit ihm 45 Beschäftigte. Ihre Arbeiten hängen und stehen vor Luxusvillen in Moskau ebenso wie im Eingang von Dresdener Hochhäusern oder am Tor von Schweizer Unternehmen. Und vor dem Rathaus von Großröhrsdorf, wo Schulte seine Firma betreibt.

„Ich lebe Briefkästen“, sagt der Unternehmer und lächelt. Die Boxen für Zeitungen, Briefe und Pakete durchziehen sein ganzes Berufsleben. Zehn Jahre lang leitete er im Sauerland, seiner Heimat, die Verkaufsabteilung eines großen Briefkastenherstellers. „Dann wurde ich ausrangiert“, sagt er, und seine Stimme klingt für einen Moment bitter. Er stand mit Anfang vierzig vor der Frage: Was nun? Verkäufer für einen anderen Hersteller? „Dann hätte ich das vielleicht weitere zehn Jahre gemacht und wäre dann über fünfzig gewesen. Nein, da wollte ich mich doch lieber selbstständig machen.“ Mit dem Bau von Briefkästen natürlich.

Im Sauerland hätte er dafür eine Werkhalle anmieten können. Lieber wollte er eine Halle kaufen, doch er fand keine in gewünschter Größe. Freunde rieten ihm, sich mal im deutschen Osten umzusehen. Da stünden viele Hallen leer, er würde sofort Arbeitskräfte finden und es gäbe Fördermittel. Das war Ende 1997. In Großröhrsdorf fand er, was er gesucht hatte. Er kam in die ehemalige Tischfabrik und sah, alles war noch da: Leitungen für Strom und Wasser, sanitäre Anlagen und was sonst so dazu gehört. Was Manfred Schulte jedoch nicht wusste: Die Wasserrohre waren längst erfroren, und in den Stromleitungen floss kein einziges Elektron mehr. So musste er den Betrieb erst herrichten lassen. 

Gute Ideen beim Autofahren 

Dabei war die Zeit denkbar ungünstig für einen Neuanfang mit Briefkästen. Der große Bauboom von Anfang der 90er-Jahre ebbte gerade ab. Hunderttausende Wohnungen waren neu gebaut oder saniert worden – und die allermeisten von ihnen hatten auch neue Briefkästen bekommen. „Wir haben uns durchgebissen“, sagt Schulte heute. „Ich frage mich manchmal selber, wie wir das geschafft haben. Mit Ausdauer, Durchhaltevermögen und Kunden, die genau darauf achteten und gut zuhören, was wir können.“ Die ersten Briefkästen schraubte er allein zusammen. Damals schien die Halle viel zu groß zu sein. Heute steht nebenan noch eine neue, zweite, weil die erste aus den Nähten platzte. Zwischen der maroden ersten Halle und den beiden modernen heute liegen 20 Jahre, in denen das Unternehmen auf zahlreichen Messen warb, bei Herstellern von Türen, Hauseingangszonen und Großvermietern Klinken putzen ging und stetig wuchs. Für Großröhrsdorf ein Glücksfall, sagt Bürgermeisterin Kerstin Fernes: „Durch seine innovativen Lösungen von Kundenproblemen, das Gespür für Trends und seinen Erfindergeist behauptet Herr Schulte sich erfolgreich am Markt, sodass das florierende Unternehmen 2014 bereits seinen Firmensitz erweitern musste.“

Doch bei allem Wachstum blieb die Alleeacker Schulte GmbH immer der kleinste Anbieter von Briefkastensystemen in Deutschland. Für den Chef kein Nachteil: „Wir können unseren Kunden die Schuhe putzen, so nahe sind wir uns. Jede Briefkastenanlage ist ein Unikat, Massenproduktion ist nichts für uns. Wir machen Dinge möglich, bei denen Großhersteller abwinken würden, weil es sich nicht lohnt.“ Gebaut wird nur, was vorher bestellt wurde. Es liegen nicht ein paar Tausend Briefkästen im Lager, sagt der Mann mit dem kleinen Allebacker-Sticker am Anzug. 

Allebacker? Wieder lächelt Manfred Schulte. „Ein uralter Name aus meinem Stammbaum, aus dem 15./16. Jahrhundert. Hat nicht jeder.“ Was auch nicht jeder hat, sind ungewöhnliche Ideen. Die kommen dem Unternehmer meist im Auto. Alle zwei, drei Wochen fährt er für ein paar Tage ins Sauerland. Im Betrieb in Großröhrsdorf hat er sich eine kleine Wohnung eingerichtet. Im Auto liegt immer griffbereit ein Notizblock. Wenn Schulte Rast macht, schreibt er sofort seine neueste Idee auf. 

Wie einst die Idee von den isolierten Briefkästen. Keine Kälte, keine Zugluft im Haus, kein Schwitzwasser auf Zeitungen und Post. „Damals wurden wir belächelt, als wir das als Erste angeboten haben“, erinnert sich der 63-Jährige. „Heute verlangt das der Markt ganz selbstverständlich.“ Auch so eine Idee: Briefkästen mit zusätzlicher Innenklappe. Sie verhindert, dass von außen jemand lange Finger machen kann. Der Katalog mit Briefkastensystemen aus Großröhrsdorf ist mittlerweile mehr als 100 Seiten dick. Schulte überlegt kurz: „An die 100 000 Einheiten im Jahr gehen hier schon raus.“ So eine Einheit kann ein einzelner Kasten sein, oder eine Anlage für ein Sechs-Familien-Haus, bis hin zu Konstruktionen für mehr als 200 Wohnungen. 

Schulte schließt den Katalog und blättert in einer Mappe. Er zeigt auf ein Balkendiagramm, dessen oberster Strich gut fünfmal so lang ist wie der unterste: die Umsatzzahlen. Beim Lohn orientiert sich der Haustarif am Standard der IG Metall, sagt der Sauerländer, der auch einer bleiben will. Dort hat er sein Haus und die mittlerweile erwachsenen Kinder. Die Ehe ist über die jahrelange Pendelei zerbrochen. Zum zweiten Mal klingt Schultes Stimme bitter, erholt sich aber schnell. „Zehn Jahre“, sagt er, „will ich das hier noch machen. Vielleicht übergebe ich den Betrieb dann an die Kinder.“ Vor zehn Jahren, erinnert er sich, habe er auch schon gesagt „noch zehn Jahre“. An Ruhestand denkt er jetzt, mit 63, noch nicht. Denn: „Solange ich arbeiten kann, weiß ich, dass ich gesund bin.“ 

 

Text: Tilo Berger
Foto: Wolfgang Wittchen

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