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Fehlende Kabelbäume, große Fragezeichen

Sie sind die aktuellen Preisträger: Sachsens Unternehmer des Jahres 2022, Lutz Gerlach (l.) und Frank Wolf, Chefs und Inhaber der Chemnitzer Firma Staffbase, halten die „Träumende“ in ihren Händen.

 

Fehlende Kabelbäume, große Fragezeichen

Leipzig. Wenn Steine reden könnten, dann hätte das unscheinbare Alte Pumpenhaus an der Dresdner Marienbrücke einiges zu erzählen: vom Bau 1895, von jahrzehntelanger Versorgung des Kraftwerks Mitte mit Brauch- und Kühlwasser aus der Elbe, vom Bombentreffer 1945, der Schließung 1994, von Vandalismus, Verfall – aber auch von Sanierung und der Wandlung zur gefragten Dresdner Eventadresse.

Ein perfekter Ort, wenn über Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft diskutiert wird, wie jüngst auf Einladung des Fraunhofer-Zentrums für Internationales Management und Wissensökonomie (IMW). Doch dort, wo sich sonst bis zu 310 Menschen zu Firmenfeiern, Hochzeiten oder Konzerten treffen, verlieren sich bei jener Resilienz-Tagung keine 20 Interessenten und kaum mehr bei der Liveübertragung im Internet.

Erst Brexit, dann Lockdown und jetzt Materialmangel
Resilienz – ein Modewort ohne Echo? In den 1950er-Jahren von der Wissenschaft entdeckt, wird die lateinische Vokabel seit der Corona-Pandemie immer öfter verwendet. Ein sprödes Fremdwort, als Wunsch aber kaum einem Unternehmen fremd. Grund genug, bei der bevorstehenden Suche nach „Sachsens Unternehmer des Jahres“ den Fokus auf Chefinnen und Chefs zu richten, für die der Begriff Programm ist, bei der Bewältigung all des Ungemachs, das binnen drei Jahren – und in den vergangenen Monaten geballt – über die Wirtschaft hereinbrach: Brexit, Covid mit Lockdown, Personalnot, Russland-Sanktionen, Lieferprobleme, Materialmangel, explodierende Energie- und Rohstoffpreise, Inflation, abrupter Nachfrage- und Umsatzeinbruch.

Die Liste der Unsicherheiten sei lang, sagt Sachsens Wissenschaftsminister Sebastian Gemkow (CDU), und die Auseinandersetzung mit Resilienz „zur Frage des wirtschaftlichen Überlebens geworden.“ Gerade kleine und mittlere Unternehmen könnten ohne Strukturen, die Störungen flexibel und kurzfristig abfedern und beheben, schnell in Schieflage und Existenznot geraten. Die Frequenz der Schockereignisse werde kürzer werden, so Gemkows alarmierende Prognose – und darauf gelte es sich einzustellen. „Viele hatten das Thema lange nicht auf dem Schirm, und dann brach es mit Corona und anderen Krisen über sie herein“, sagt Thomas Horn, Chef der Wirtschaftsförderung Sachsen (WFS). Man müsse immer am Ball bleiben, rät der Geschäftsführer. Große Namen wie der Film-Hersteller Agfa hätten „den Zug der Zeit nicht erkannt“ und seien von der Bildfläche verschwunden. Versandhäuser wie Quelle und Neckermann hätten nicht verstanden, ihr Katalog-Angebot ins Digitale zu übertragen. Die Folge: Ihr Geschäft macht heute Amazon. Und Nokia, einst Weltmarktführer bei Handys, sei gerade noch so am Aus vorbeigeschrammt.

Friedensdividende 30 Jahre nach der Einheit aufgebraucht
„Heute betrifft das Problem alle Unternehmen, aber auch die Entscheider in der Politik, die Wissenschaft – nahezu jeden“, sagt Horn. Dabei sei Resilienz eine grundlegende Frage, die sich für Unternehmen schon am Anfang beim Businessplan stelle. Es gebe keine pauschalen Antworten, nur individuelle. Die Notwendigkeit, sich widerstandsfähig aufzustellen, werde bleiben, auch nach einem Ende des Ukrainekriegs, ist Horn überzeugt.

Jahrzehnte habe Deutschland „im Glauben gelebt, dass alles immer besser wird“: die Einheit, Europas Zusammenwachsen, offene Grenzen, Kooperationen, zunehmender Freihandel, Wachstum von Wirtschaft und Wohlstand. Aber gut 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sei die „Friedensdividende“ aufgebraucht.

„Gewohnte Dinge wie internationale Arbeitsteilung funktionieren nicht mehr“, sagt der WFS-Chef und verweist auf bei Autobauern fehlende Kabelbäume aus der Ukraine. Aus Selbstverständlichkeiten würden viele Fragezeichen – und das gleichzeitig, so Horn. Mit der Umstellung von VW auf Elektroautos hätten viele Zulieferer im Erzgebirge ihr Geschäftsmodell verloren. Sie hätten sich hinterfragen und Antworten finden müssen. Sachsens Standortwerber begrüßt den wissenschaftlichen Ansatz, um das Problem in die Unternehmen zu tragen.

Die Jury für Sachsens bedeutendsten Unternehmerpreis legt diesmal ihren Fokus in gleichnamiger Sonderkategorie auf Chefinnen und Chefs, die mit Weitsicht und langfristigen Unternehmenszielen sowie klugem Einsatz von Ressourcen flexibel in schwierigen Situationen agieren. Sie würdigt etwa Unternehmenswerte, die einen positiven Umgang mit Fehlern erlauben und die Offenheit, stetig dazuzulernen.

Sachsen glänzt mit Robotik und autonomen Fahren
„Wir haben vieles selbst in der Hand und technologisch enorme Fähigkeiten, um mit dem Wandel zurechtzukommen“, resümiert WFS-Chef Thomas Horn. Er verweist dabei auf Sachsens Robotik, autonomes Fahren, künstliche Intelligenz, Leichtbau und Biotechnologie.

Das Fraunhofer IFM will Unternehmen auf dem Weg zu Robustheit wissenschaftlich begleiten. „Dazu müssen sie aber bereit sein, die eigene Geschäftstätigkeit immer wieder zu hinterfragen“, sagt Institutschef Posselt. Der Professor an der Universität Leipzig plädiert für ein Netzwerk, um Ideen auszutauschen und voneinander zu lernen.

Die Dresdner Fachtagung sollte der Auftakt sein. Derweil startet der Wettbewerb „Sachsens Unternehmer des Jahres“ in seine 18. Saison – und mit ihm die Suche nach dem oder der besten Resilienzmanager/in.

Text: Michael Rothe
Foto: Ronald Bonß

 

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